Freitag, 20. Juli 2012

ESSAY ZUR POLITIKVERDROSSENHEIT 
Reichstag building Berlin view from west before sunset

Zum Inventar der Bundesrepublik gehört heutzutage zweifelsfrei die Politikverdrossenheit. Diese wird ständig von Bürgern und Journalisten beklagt. Und übrigens auch von den Personen, die im Politikbetrieb arbeiten. Diese fühlen sich „von den Menschen da draußen im Lande“ unverstanden.

Gründe für die Verdrossenheit gibt es viele. Die wohl häufigsten sind – nach meiner Recherche und aus Sicht der Verdrossenden:
  1. In der Politik gibt’s immer nur Streit zwischen Regierung und Opposition oder den Parteien untereinander – und dann häufig nur um Marginalien, die eh keiner mehr versteht.
  2. Es gibt nur wenig Einfluss für uns Bürger auf das politische Geschehen. Alles wird in Hinterzimmern ausgekungelt.
  3. Die Politiker denken nur an sich. Denen da oben ist doch egal, was ich will.
  4. Die abgehobene Sprache der politischen Klasse versteht doch kein normaler Bürger mehr.
  5. Skandale und Affären haben das Berufsbild des Politikers nachhaltig beschädigt. Die haben doch alle Dreck am Stecken.
  6. Die Medien berichten doch immer nur von Skandalen. Eine richtige Vermittlung komplizierter Sachverhalte findet doch nicht mehr statt.
Es gibt aber noch einen anderen Punkt, der in der Analyse des Problems fehlt, aber doch von zentraler Bedeutung ist: Es gibt heute wenig neue Ideen. Es gibt eigentlich keine politischen Visionen mehr. (Oder aber Politiker, die welche haben, trauen sich nicht diese lautstark zu formulieren.)

Warum? Das hat vor allem mit dem Wegbrechen des alten Freund/Feind-Schemas nach dem Ende des Kalten Krieges zu tun. Politische Debatten in den Jahrzehnten zuvor wurden immer auch von Untergangsszenarien begleitet („Freiheit oder Sozialismus!“, „Atomkraft – Nein, danke!“). Auch hatten die damaligen Politiker fast alle Kriegserfahrungen gehabt – das prägte diese Generationen.

Jetzt wird sich keiner diese Zeiten zurück wünschen; das ist das ja ein großer Fortschritt. Aber dadurch, dass ganz große, existenzielle Fragen nicht mehr auf der Tagesordnung stehen, geht den Debatten natürlich etwas verloren. Da fehlt so ein bisschen das Salz in der Suppe.

Auch ist die Welt heute viel komplexer und komplizierter geworden: Immer mehr Staaten, dadurch immer mehr Interessen, die gebündelt werden müssen. Eine rasante Technikentwicklung, die vor allem die Kommunikationsmöglichkeiten in kurzen Abständen ständig revolutioniert. Und das Auflösen von sozialen Gruppen, die auch das langfristige Binden der Bürger an Gewerkschaften, Kirchen, Vereinen oder politischen Parteien zur Folge hat.

Eigentlich genau die richtige Zeit für neue Ideen. Aber wo sind sie?

Fangen wir in der Opposition an. Im Deutschen Bundestag fällt die Rolle ja vor allem den Sozialdemokraten und den Grünen zu. (Zu den zerstrittenen, populistischen Linken an andere Stelle mehr.) Die stimmen – wie es sich für eine Opposition auch gehört – bei den meisten Anliegen der Regierung auch schön mit Nein. Aber – und das ist historisch neu – in den wenigen, wirklich wichtigen Fragen gibt es fast immer Zustimmung. Die Verlängerung der Auslandsmandate der Bundeswehr, die Rettungspakete für deutsche und ausländische Banken oder die Euro-Stabilisierungsmaßnahmen – wirkliche Opposition sieht anders aus.

Klar, manchmal ist die Regierung auch auf Oppositionskurs eingeschwenkt. Die besten Beispiele sind die Wendung in der Energiepolitik nach Fukushima oder die de-facto-Abschaffung der Wehrpflicht. Aber hier hätte man vor Jahren zumindest großen Widerstand innerhalb der Regierungskoalitionen oder der publizistischen Anhängerschaft erwartet. Pustekuchen.

Versteht mich nicht falsch. In den meisten Punkten finde ich den eingeschlagenen Weg auch außerordentlich richtig. Aber es fällt schon auf, dass es keine großen Gegenentwürfe mehr gibt. Trauen die sich nicht? Fällt denen nichts ein?

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird vorgeworfen, dass sie ihr Regierungshandeln als alternativlos bezeichnet. Das hat bestimmt auch etwas mit Arroganz der Macht zu tun, ist aber gleichzeitig eine Offenbarungserklärung der innen- wie außerparlamentarischen Opposition.

Die Piraten haben zuletzt frischen Wind in die Politik gebracht. Das ist grundsätzlich toll. Aber langsam komme ich zu der Ansicht, dass die uns auch nicht wirklich weiterbringen. Mehr Transparenz, mehr Bürgerbeteiligung klingen ja ganz gut und sind im Zweifel einem weniger davon vorzuziehen. Die Piraten zielen aber an dem Grundproblem vorbei. Es geht ihnen vordergründig nur um einen neuen Politikstil. Sie wollen der „Demokratie ein neues Betriebssystem“ verpassen, wie sie so schön sagen.

Aber es reicht nicht nur neue Fragen zu stellen, sondern neue Antworten sind gefragt. Egal an welches Politikfeld ich denke, wirklich neue Ideen haben auch die Piraten noch nicht präsentiert. Mal bedienen sie sich bei Linken (Bedingungsloses Grundeinkommen), mal bei Liberalen (Datenschutz), mal bei Spinnern – und allzu oft haben sie ja gar keine Meinung. Aber von einem ganz neuen Ansatz, wie wir beispielsweise die Problemfelder EU/Euro, Demografie, Arbeitslosigkeit, Sozialstaat, Afghanistan, politischer oder religiöser Radikalismus lösen oder zumindest angehen können, habe ich nichts gehört. Schade eigentlich.

Vielleicht liegt es ja wirklich daran, dass man sich heute nicht mehr traut, große Ideen zu postulieren. Ein Blick zurück. Wir schreiben das Jahr 2004. Die rot-grüne Bundesregierung schlingert sich mehr schlecht als recht durch ihren Regierungsalltag. Nach der „Agenda 2010“ (Wieder eine Reform, die von der großem Teil der Opposition mitgetragen wurde.) des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) deutet alles auf einen Machtwechsel hin zur Union hin.

Aber die fangen auf einmal an, sich wie die Kesselflicker um ihr Regierungsprogramm zu streiten. Beispiel: die Einführung einer sogenannten Gesundheitsprämie. Alle Bürger sollten einen einheitlichen Satz von 169 Euro monatlich an ihre Krankenversicherungen zahlen. Also sowohl der Chefarzt, als auch die Krankenschwester. Gleichzeitig wollte die damalige Oppositionsführerin und CDU-Parteivorsitzende Angela Merkel eine große Umverteilung im gesamten Gesundheitswesen organisieren – inklusive einer deftigen Steuererhöhung. Das Ziel war, die Gesundheitskosten von der Arbeitsleistung abzukoppeln und durch eine Ko-Finanzierung über die Steuer für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.

Die soziale Gerechtigkeit aber, die ist ein Schlagwort mit der man in Deutschland jede Initiative kaputtreden kann. Die Vorschläge wurden in der Öffentlichkeit als „Kopfpauschale“ diffamiert. Nicht nur vom politischen Gegner, sondern vor allem auch von der Schwesterpartei CSU mit Ministerpräsident Edmund Stoiber und Ex-Gesundheitsminister Horst Seehofer an der Spitze. Chefarzt und Krankenschwester mit dem gleichen Gesundheitsbeitrag? Das schreit natürlich nach Ungerechtigkeit.

Doch die Idee war faszinierend. Nicht mehr nur die Arbeitgeber und -nehmer sollten den Großteil der Gesundheitskosten der Bevölkerung tragen, sondern alle – auch die Politiker, Beamten, Privatversicherte, Superreichen, etc. sich über die Steuern beteiligen. Dass das neue System insgesamt gerechter wäre, kam kaum durch. Eine der wenigen substanziellen Berichte in dieser Zeit druckte damals das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ am 11. Oktober 2004. Quintessenz: Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann hätte sich zukünftig über 44.409 Euro neue Gesundheitssteuern erfreuen dürfen – monatlich.

Spiegel-Titel 37/2005 (Quelle)

Wenig später präsentierte die zur Kanzlerkandidatin aufgerückte Angela Merkel mit dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof einen unangepassten Quereinsteiger als Schattenfinanzminister. Neben ein paar unglücklichen Auftritten des auf großer politischer Bühne ungeübten Kirchhof bleibt von dieser Nominierung vor allem eines in Erinnerung: Da kam einer, der neue Ideen mitbrachte, aber frontal demontiert wurde.

Kirchhofs durchgerechnete Konzepte wurden einfach nicht ernst genommen. Er wurde sogar der Lächerlichkeit preisgegeben. Kanzler Schröder nannte ihn abfällig den „Professor aus Heidelberg“, stellte ihn in Wahlkampfreden als einen unsympathischen Neunmalklugen hin.

Eine Massenwirkung erzielt das natürlich erst, wenn die Medien sich vor diesen Karren spannen lassen. Die haben kräftig mitgemischt. Das Draufhauen auf einen Neupolitiker war offenbar verkaufsfördernder als das sich Auseinandersetzen mit seinen Ideen. Verwundert die Ablehnung neuer, von mir aus auch Reizfiguren in der Öffentlichkeit, wenn „Der Spiegel“ in der Ausgabe direkt vor der Bundestagswahl 2005 ein unsympathisches Foto von Paul Kirchhof mit einer eindeutig negativ assoziierenden Schlagzeile auf den Titel hebt?

Altbundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) wird ein besonderes Zitat zugeschrieben: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Dass er damit einer mutlosen Politikergeneration ein Leitmotiv lieferte, ist bedenklich und leistet der Politikverdrossenheit Vorschub.


tl;drPolitikverdrossenheit hat eine unterschätze Ursache: Die Ideenlosigkeit der politischen Klasse. Aber man kann es ihr kaum verübeln, hat sie doch gelernt: Wer durch Ideen auffällt, fällt durch.


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